Zu den merkwürdigsten Abschnitten meines Lebens gehört der, den ich als Angestellter in Alfred Wunsiedels Fabrik zubrachte ... Ich hatte mich der Arbeitsvermittlung anvertraut und wurde mit sieben anderen Leidensgenossen in Wunsiedels Fabrik geschickt, wo wir einer Eignungsprüfung unterzogen werden sollten. Ich wurde als erster in den Prüfungsraum geschickt, wo auf reizenden Tischen die Fragebögen bereitlagen. Erste Frage: „Halten Sie es für richtig, dass der Mensch nur zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren hat?” Hier erntete ich zum erstenmal die Früchte meiner mir eigenen Nachdenklichkeit und ich schrieb ohne zu zögern hin: „Selbst vier Arme, Beine und Ohren würden meinem Tatendrang nicht genügen. Die Ausstattung des Menschen ist kümmerlich.” Zweite Frage: „Wie viele Telefone können Sie gleichzeitig bedienen?” Auch hier war die Antwort so leicht wie die Lösung einer Gleichung ersten Grades: „Wenn es nur sieben Telefone sind”, schrieb ich, „werde ich ungeduldig, erst bei neun fühle ich mich völlig ausgelastet.“ Dritte Frage: „Was machen Sie nach Feierabend?” Meine Antwort: „Ich kenne das Wort Feierabend nicht mehr – in meinem fünfzehnten Lebensjahr strich ich es aus meinem Vokabular, denn am Anfang war die Tat!” Ich bekam die Stelle.
Es handelt sich, meine Damen und Herren, nicht um eine Episode aus meinem Lebenslauf, sondern um eine Geschichte, die Heinrich Böll schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Es könnte sich um die Beschreibung einer Prüfung bei einer Sozial- und Arbeitsagentur im Jahr 2010 handeln. Verlangt wird der grenzenlos flexible, unbeschränkt belastbare Arbeitnehmer, unglaublich gesund, unglaublich robust und leistungsfähig. Die Frage lautet: Wollen wir eine solche Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der es überall zugeht wie in der Wunsiedler Fabrik – in der unbegrenzte Leistungsfähigkeit zählt und nichts sonst, in der der Marktwert zählt, in der Wert des Menschen nur am Lineal der Ökonomie gemessen wird?
Die Frage ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Der bloße homo faber ist Vergangenheit. Er war der Mensch der Moderne. In der Postmoderne reicht es nicht mehr wenn der homo faber, der Mensch einfach arbeitet. Er muss ein homo faber mobilis sein. Er soll in höchstem Maß flexibel, mobil und anpassungsfähig sein. Seit langem wird daher so getan, als sei ein Mensch, wenn er keine Arbeit hat und auch keine kriegt, schlichtweg nicht ausreichend flexibel, nicht ausreichend mobil, nicht ausreichend anpassungsfähig. An der Arbeitslosigkeit ist also angeblich nicht zuletzt derjenige selbst schuld, der keine Arbeit hat – wäre er genügend mobil, flexibel und anpassungsfähig, wäre er also nicht zu bequem, dann hätte er ja Arbeit. Viele Wirtschaftsinstitute und Wirtschaftsprofessoren, Wirtschaftsfunktionäre und Politiker verlangen daher den neuen Menschen, den homo faber novus mobilis, den Menschen also, der über seine Grenzen und Behinderungen hinauswächst...
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